Alternative Heilmethoden müssen nicht zwangsläufig aus Asien stammen: Auch die „Traditionelle Europäische Medizin“ bietet eine Vielfalt von Erfolg versprechenden Verfahren!
Ein erheblicher Teil der Anwendungen in der Naturmedizin stammt aus dem asiatischen Raum. So sind jedem Menschen, der sich für alternative Heilkunde interessiert, Lehren wie Yoga, Reiki, Ayurveda oder die Verfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) ein Begriff. Weit weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, dass es auch auf unserem Kontinent seit jeher alternative Heilmethoden gibt, die trotz ihrer Vielfalt unter der Bezeichnung „Traditionelle Europäische Medizin“ (TEM) zusammengefasst werden.
Wie ihre asiatischen Pendants basieren auch die unterschiedlichen und seit vielen Jahrhunderten bekannten europäischen Konzepte auf einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen, indem sie nicht nur den Körper in den Mittelpunkt des Interesses stellen, sondern auch den Geist und die Seele sowie die natürliche und soziale Umgebung berücksichtigen.
Damit erheben sie wie die asiatischen Lehren den Anspruch, Therapien im Einklang mit der Natur und ohne unerwünschte Nebenwirkungen anbieten zu können. Mit diesem Ansatz liegen sie im 21. Jahrhundert mehr denn je im Trend: Rund 150 Millionen Menschen in der EU schwören mittlerweile auf Naturheilkunde und etwa 80 Prozent der Deutschen geben in Studien an, es bei harmloseren Beschwerden zunächst mit alten Hausmitteln zu versuchen, statt gleich zu pharmazeutischen Produkten zu greifen.
Ursprung und Definition
Obwohl es keine einheitliche Definition für die Traditionelle Europäische Medizin gibt, versteht man darunter weitgehend die Gesamtheit aller naturheilkundlichen Verfahren, die aus der abendländischen Kultur entstanden und zu einem Teil von ihr wurden. Die Grundlage all dieser Anwendungen bildet die etwa 400 v. Chr. von Hippokrates von Kos entwickelte und rund 500 Jahre später von Galen von Pergamon verfeinerte „Viersäftelehre“ (Humoralpathologie), die bis zum Ende des Mittelalters als medizinischer Standard in Europa galt.
Nach dieser Lehre enthält der menschliche Körper die vier Säfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle, die den vier Elementen zugeordnet werden. Welcher dieser Säfte in einem Menschen vorherrscht, bestimmt dessen psychische und physische Verfassung.
Die Entstehung von Krankheiten wird wiederum so erklärt, dass das Gleichgewicht gestört wird, in dem sich diese Säfte gewöhnlich befinden. Dass die Viersäftelehre nicht stimmen konnte, entdeckte der berühmte Arzt Paracelsus im 16. Jahrhundert. Mit der Entdeckung des Blutkreislaufs im 17. Jahrhundert und der Zellen im 18. Jahrhundert hatte dieses Dogma dann endgültig ausgedient.
Entspannung, Ernährung und Bewegung
Doch selbst, wenn die Viersäftelehre falsch war und mit Recht verworfen wurde, legte sie doch den Grundstein für die Grundprinzipien der Traditionellen Europäischen Medizin, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben: Sollten das seelische Gleichgewicht, die Ernährung, die Bewegung, die Pflanzenheilkunde und die Reiztherapie einst für die Balance der Säfte sorgen, so gelten diese fünf Aspekte aus heutiger Sicht als nicht minder wichtig für die Gesundheit und das Wohlbefinden!
Schon früh erkannte man die Bedeutung des seelischen Gleichgewichts für den Organismus. Auch, wenn damals Yoga und Qigong in unseren Breiten noch völlig unbekannt waren, erkannten die Ärzte des Mittelalters, dass Ruhe, Entspannung und Meditation einen positiven Einfluss auf das geistige und körperliche Befinden eines Menschen haben. Dass dies im Einklang zur modernen Schulmedizin steht, zeigt die psychosomatische Medizin, die ebenfalls einen ganzheitlichen Ansatz hat, indem sie einen Zusammenhang zwischen seelischen Einflüssen und körperlichen Veränderungen herstellt.
Die Tatsache, dass man ist, was man isst, war den Heilern bereits vor Jahrhunderten ebenfalls bekannt, obwohl sie noch meilenweit von der modernen Ernährungswissenschaft entfernt waren. Und natürlich vermutete man auch damals schon, dass Völlerei und Trunksucht keine guten Voraussetzungen für ein langes und gesundes Leben sind. So ist es nur logisch, dass viele Verfahren, die heute der „Entschlackung“ dienen, ebenfalls älteren Ursprungs sind: Die Rede ist nicht nur vom Heilfasten oder von Trinkkuren, sondern auch der Blutegel und der Schröpfkopf kommen wieder in Mode!
Heilen mit Pflanzen und ihren Extrakten
Wenn von der Pflanzenheilkunde oder Phytotherapie, wie sie auch genannt wird, die Rede ist, dann darf der Name Hildegard von Bingen natürlich nicht unerwähnt bleiben. Die Benediktiner-Äbtissin verfasste im 12. Jahrhundert eine Vielzahl von heilkundlichen Schriften, die auf der Volksmedizin basierten und durch eigene Erfahrungen und Entdeckungen ergänzt wurden.
Nach wie vor bildet die Phytotherapie einen der Grundpfeiler von Heilpraktikern und naturmedizinisch orientierten Ärzten. Hildegard von Bingen würde vermutlich nicht schlecht staunen, würde sie erfahren, dass heute rund 250 Heilpflanzen bekannt sind und für therapeutische Zwecke genutzt werden. Hinzu kommt das breite Spektrum an ätherischen Ölen, die in der Aromatherapie Anwendung finden.
Der alte Spruch, dass gegen jedes Leiden ein Kraut gewachsen ist, hat also nichts von seinem Wahrheitsgehalt eingebüßt – und auch hier gibt es durchaus Berührungspunkte mit der Schulmedizin: Pflanzen und ihre Extrakte bilden nach wie vor eine bedeutende Quelle für eine Vielzahl von Tees, Säften, Tinkturen und Salben, ja sogar Pillen und Tabletten!
Heilen mit Wasser, Luft und Temperatur
Was Hildegard von Bingen für die Pflanzenheilkunde, ist der bayerische Priester Sebastian Kneipp für die physikalische Therapie. Er beschäftigte sich zwar auch mit der Phytotherapie sowie mit einer ganzen Reihe von Ernährungs- und Bewegungsregeln: Berühmt wurde er im 19. Jahrhundert allerdings mit Wassergüssen und dem Wassertreten, die als Grundlage der modernen Hydrotherapie gelten.
Nicht erst seit Pfarrer Kneipp spielt Wasser bei der Behandlung von Beschwerden am Bewegungsapparat eine bedeutende Rolle. Heute bietet die Hydrotherapie ein breites Spektrum von Anwendungen, die von Wassertreten, Wassergüssen und Dauerbrausen über Heil-, Moor- und Bewegungsbädern bis hin zu Wickeln, Packungen und Abreibungen reichen. Dabei werden Reize von der Hautoberfläche ins Körperinnere weitergeleitet und damit Kreislauf und Durchblutung sowie Nerven- und Immunsystem angeregt.
Doch auch die Behandlung mit Luft und Temperatur hat in Europa eine lange Tradition. Von alters her weiß man, dass sich bestimmte klimatische Bedingungen positiv auf den Organismus auswirken – sei es am Meer oder in den Bergen. Und ebenfalls seit Langem ist bekannt, dass Wärme und Kälte Beschwerden lindern können – man denke nur an die gute, alte Wärmeflasche bei Ischias oder Bauchschmerzen oder an die Anwendung von Kältereizen bei Rheuma oder Kopfschmerz! All diese Beispiele zeigen, dass auch Europa über eine prall gefüllte Schatzkiste mit naturmedizinischem Wissen verfügt, das uns bis heute zugutekommt!
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